70 Jahre Staatsvertrag

Rede von Walter Rosenkranz (Präsident des Nationalrates) anlässlich die Festsitzung im Parlament
(Begrüssungen)
...Heute vor 70 Jahren wurde der Staatsvertrag von Wien unterzeichnet, jenes Dokument mit den feuerroten Siegeln und den Unterschriften auf den letzten Seiten, das jedem Österreicher und jeder Österreicherin im Gedächtnis präsent ist, man kann sagen, eine weltliche Reliquie der jüngeren österreichischen Geschichte, vergleichbar mit dem Privilegium minus oder der Schlussakte des Wiener Kongresses.
Wer kennt nicht die Bilder, als Leopold Figl das Schriftstück dem österreichischen Volk vom Balkon des Belvedere stolz und freudig als formellen Schlusspunkt jahrelanger schwerer Verhandlungen nach einer Zeit der ärgsten Not, die Krieg und nationalsozialistischer Terror anrichteten, präsentierte?
Die Geschichtchen rund um diesen Tag sind auch bekannt. Der Satz: „Österreich ist frei!“, wurde nicht auf dem Balkon gesprochen, sondern im Marmorsaal. Das Foto selbst wurde retuschiert, damit Außenminister Dulles besser darauf aussieht. Er hat sich nämlich weggedreht gehabt. Und auch die Entstehungsgeschichte des Ölgemäldes von der Unterzeichnung ist in vielerlei Hinsicht merkwürdig, vor allem mit Blick auf den Auftrag, Persönlichkeiten einzufügen, die gar nicht dabei waren. Diese Kuriosa dürfen aber nicht davon ablenken, welche immensen Anstrengungen es zehn Jahre hindurch gab, bis der Staatsvertrag wie man sagt unter Dach und Fach war.
Ich darf anmerken, dass es sich beim Staatsvertrag um keinen Friedensvertrag handelt. Es gab keine Krieg führende Republik Österreich. Österreich ist 1938 untergegangen und erst 1945 wiedererstanden – eine bedeutende Tatsache, was Reparationszahlungen betraf.
Es muss auch die Moskauer Deklaration vom 1.11.1943 als Glücksfall bezeichnet werden. Die Außenminister der USA, der Sowjetunion und Großbritanniens formulierten bereits damals, dass die Besetzung Österreichs für null und nichtig erklärt wird und sie wünschen – ich zitiere –, „ein freies und unabhängiges Österreich wiederhergestellt zu sehen“. Dennoch wurde schon damals die Mitverantwortung Österreichs und seiner Bevölkerung für die Teilnahme am Krieg ausgesprochen. Ein freies, unabhängiges Österreich war also bereits damals in den Köpfen der Alliierten.
Im ersten Kontrollabkommen der Alliierten im Juli 1945 wurde Österreichs Souveränität bis zur Errichtung einer frei gewählten, anerkannten österreichischen Regierung nach den Weisungen und Ratschlägen der Alliierten beschränkt. Die Alliierten erstaunte es aber, wie rasch der „alte Fuchs“ – ein Zitat Stalins – Karl Renner mit Vertretern der ÖVP, der SPÖ und den Kommunisten eine provisorische Staatsregierung und erste Nationalratswahlen organisierte. Diese Regierung fand im Herbst 1945 allgemeine Anerkennung. Der Nationalrat trat im Dezember 1945 zusammen und setzte die Verfassung der Ersten Republik wieder in Kraft. Damit sah sich Österreich als demokratische Republik wiederentstanden und legitimiert, die Forderung nach einem Staatsvertrag zu stellen.
Jetzt im Überblick: 1946 gab es bei einer Tagung der alliierten Außenminister in Paris die erste Prüfung der österreichischen Frage. Bis 1954 fanden 260 Sitzungen in diesem Format statt. Österreich wurde nur angehört. Erst 1954 wurde Österreich gleichberechtigt beigezogen.
Ein Problem war das deutsche Eigentum in Österreich – Stichwörter: DDSG, Erdölvorkommen, Usia-Betriebe, AEG, Elin et cetera. Gebietsansprüche Jugoslawiens waren Thema. Durch den Bruch Titos mit Stalin 1948 war diese durchaus bedrohliche Problematik entschärft. Weiters mussten die Folgen des Anschlusses absolut vernichtet werden, die Entnazifizierung musste glaubhaft durchgeführt werden, und jeder Keim für einen zukünftigen Anschluss musste erstickt werden.
An dieser Stelle muss bedacht werden, dass die Situation Österreichs in die Entwicklungen rundherum in Europa und der Welt eingebettet war. Die UdSSR sahen eine Gefahr eines Zusammenschlusses Österreichs mit einem aufgerüsteten Westdeutschland. Die Drohung der UdSSR, Truppen in ganz Österreich zu stationieren, stand im Raum. Man wollte die Westintegration Österreichs um jeden Preis verhindern.
Wir befanden uns geopolitisch in der Zeit des Koreakrieges, als sich die Blöcke des Kalten Krieges entwickelten. Europäische Beitritte zur Nato, Bündnisse wie die Seato Australiens, Neuseelands entstanden. Da war für die Sowjets ein neutrales Österreich als Keil zwischen der BRD und Italien besser als ein von russischen Truppen besetztes Österreich. Parallel gab es vor allem von Frankreich bereits 1949 ernste Bestrebungen, Österreich in die Nato einzubinden. Die USA ventilierten für Österreich eine Lösung wie für Deutschland, also eine Teilung in einen West- und einen Ostteil.
Man sieht, Österreich war auch strategischer Spielball der Besatzungsmächte. Aber die österreichische Bundesregierung wies jeglichen Versuch, zu spalten und zu teilen kategorisch zurück. Die Lösung war die Bündnislosigkeit in Form der dauerhaften Neutralität.
Damals fehlte noch jede historische Erfahrung, aber bereits nach 1945 war der Gedanke einer Äquidistanz zu allen Mächten beobachtbar. Es gibt dazu klare Aussagen Figls, Grubers, Raabs, Renners und Körners. 1952 sprachen bereits alle Parteien von einer Neutralität, wenn auch ohne einheitliche Interpretation. Erst 1954 kamen die Alliierten auf einen gemeinsamen Nenner: Die UdSSR setzte ihre Forderung nach militärischer Neutralität durch. Die Westalliierten stimmten zu, wenn dieser Schritt freiwillig gesetzt wird, außerhalb des Staatsvertrages.
Und jetzt geht es eigentlich sehr rasch. Während der Verhandlungen in Moskau im April 1955 – wir denken an die Karikatur von Figl: „Und jetzt, Raab – jetzt noch d’Reblaus, dann sans waach!“ – wird erstmals das Wort Neutralität seitens Österreichs in den Verhandlungen verwendet. Das Ergebnis wird im Moskauer Memorandum zusammengefasst. Am 2.5.1955 wurden in Wien von Botschaftern mit Österreich die Vertragstexte erstellt.
Um die einzigartige Dramatik und auch den Druck dieser Tage zu verdeutlichen, ein Parallelereignis: Bevor Außenminister Molotow nach Österreich kam, unterzeichnete er noch am 14.5.1955, am Vortag, in Warschau die Gründungsurkunde des Warschauer Paktes. Die Blöcke des Kalten Krieges standen sich gegenüber, Österreich – das kleine Österreich – hatte es geschafft, sich aus dieser Auseinandersetzung herauszuhalten, ich würde meinen, in letzter Minute.
Ich verneige mich heute mit großem Respekt vor der Leistung und dem diplomatischen Geschick der großen Staatsmänner dieser Jahre. Die meisten Namen sind bereits gefallen. Ich darf noch Bruno Kreisky und Ludwig Steiner erwähnen. Ihnen allen ist es gelungen, Österreichs Position im Herzen Europas zum Wohl seiner Menschen zu festigen. Das Vermächtnis unserer großen Staatsmänner fordert uns auf, den Staatsvertrag auch heute noch mit Leben zu erfüllen, zum Beispiel – weil ich auch hier Vertreter sehe – den Artikel 7, zu dem uns auch Schreiben zugegangen sind. Sehr geehrte Damen und Herren, es lebe die Republik Österreich!