Die Tragödie unserer Zeit

Die Tragödie unserer Zeit

„Bevor wir das »in sklavischer Nacht« wie eine tröstende Fackel leuchtende Zentenarium-Jahr von Petőfi, Madách, Gereben Vas verlassen, […] lasst uns die Buchstaben-Bleisoldaten feierlich aufstellen…“, schrieb vor einem Jahrhundert, im November 1923, in seiner ausgeschmückten Formulierung der Historiker István Szabó – der vielleicht hervorragendste Schilderer der Geschichte des Bauerntums -, bevor er über acht Jahrzehnte Zeitungsgeschichte seiner engeren Heimat Debrecen blickte. Heuer, hundert Jahre später, scheint der 200. Geburtstag des ungarischen Dichters mit der größten Wirkung Madách und Die Tragödie des Menschen in den Hintergrund zu drängen. (Gereben Vas – auch dem Schreiber dieser Zeilen lange nur als „Gassenname“ bekannt – ist eine der fast völlig vergessenen Figuren von 1848-49 und der Prosa nach dem Sturz des Freiheitskampfes.)

In den Spalten des letzten Bécsi Napló des Jahres dürfen wohl dem beispiellosen Kunstwerk der ungarischen Literatur einige Gedanken gewidmet sein. Es bleibt zweifellos so lange aktuell, wie ein einziger Ungar – oder blicken wir in die Ferne: Mensch – auf der Erde lebt. Imre Madách wagte – sowohl was sein eigenes Leben als auch die Geschichte der Nation betrifft – in einer Ära über die Wendungen der Menschheit und den Grund für den Sturz wohlklingenden Ideen, Ideale nachzudenken, in der jede Hoffnung verloren zu sein schien. Dieser Umstand selbst mag schon den Thesen über den Pessimismus der Tragödie zu widersprechen, markiert aber zugleich die Verwandtschaft mit unserer Gegenwart. Angesichts von Pandämie(n), Krieg(en), Terror, nie erlebter seelischer Entleerung, Naturzerstörung – und der Kombination all dessen – haben wir kaum Lust, über die Jammereien des Alltags hinauszublicken. Dabei gibt Madách auch dafür ein Beispiel, dass es auch in den schlimmsten unheilverkündenden Zeiten sinnvoll ist – im Gegenteil, nur das ist sinnvoll -, über die Möglichkeiten des Morgen und des Übermorgen nachzudenken. Die Zunkunft kann natürlich nur in Kenntnis der Fehler der Vergangenheit bearbeitet werden.

Ruhm, Freiheit, Lebensgenuss, Glaube, Ruhe, Gleichheit, Wissenschaft, freier Wettbewerb, Menschlichkeit – Ideale, welche bei der Verwirklichung zur Wahnidee verzerrt werden. „Gerade die heilige Lehre ist stets Euer Fluch, / Wenn ihr zufällig sie entdeckt: / Weil Ihr sie so lange dreht, zuspitzt / spaltet, schärft, / bis aus ihr Wahnsinn oder Fessel wird“, richtet Luzifer die Konstantinopler Botschaft an Adam und die Menschheit. Aber kann der Mensch ohne Ideale leben? Und was ist unseres Zeitalters vorherrschendes Ideal? Wo würde Madách heute Adam positionieren? Leben wir möglicherweise irgendeine frühere Inszenierung? Sind wir in Athen, wo die Klein- und Mittelmäßigkeit unter den Schlagworten der Demokratie die Hervorragenden „scherbenbestimmt“? Im Rom vor des Sturz, wo „die Stadt stirbt, ein derbes fremdes Volk / deine goldenen Pflanzungen zertrampelt, / Die Ordnung sich auflöst, niemand befiehlt / und niemand folgt“? Oder in London, wo es dem System des freien Wettbewerbs „bloß“ ein entscheidendes Element mangelt: die Pietät? Oder ausgerechnet im supranationalen Phalanstère, aus dem der „kleinliche“ Begriff der Heimat schon eliminiert ist: „Jetzt ist schon die gesamte Erde die breite Heimat, / Richtung Gemeinziel ist bereits Partner jeder Mensch, / Und über der friedlich fließenden schönen Ordnung / Steht salutierend irr die Wissenschaft.“ Möglicherweise nicht mehr weit vom letzten Menschen, von der eisigen Realität der Eskimo-Szenerie?

Wohl kaum die von Zeit zu Zeit auf uns hereinbrechende Bedrückung, die von Bildschirmen und stetig moderneren Gerätschaften strömende unaufhaltsame Nachrichtenflut, das Sterben unserer Gemeinschaften oder die augenblickliche schlechte Laune lassen uns sagen, dass wir im geistigen Sinn in eine Tiefe geraten sind, die vielleicht selbst Madáchs Genie nicht vorhersehen konnte. In der Phalanstère-Szene wird der Mutter das Kind entrissen und sein Schicksal vorausgeschrieben – aber wenigstens wird es nicht ans Spitalsbett „gefesselt“, seinen Transport „in Berufung auf seine Interessen“ verbietend, ihm jede auch noch so kleine Hoffnung auf Gesundung nehmend.

Madách konnte das „Karteisystem“ der Diktaturen des 20. Jahrhunderts, die Brutalität des Nationalsozialismus und des Kommunismus, nicht kennen, und noch weniger die mit dem technischen Fortschritt des 21. Kahrhunderts einhergehenden Systeme der totalen und globalen Überwachung. Auch die „künstliche Intelligenz“, die an Stelle des „traumverbannten“ Platon und des sesselbeinschnitzenden Michelangelo tritt, und die Entleerung der Künste nicht. Die Vision des letzten Menschen, der „weniger Menschen, mehr Seehunde“ wünscht, erscheint auch nicht schlimmer als die Konsequenzen eines vernichtenden Krieges, der mit der Konfrontation der Atomwaffenmächte endet.

„Des Menschen Ziel ist der Kampf selbst“, formuliert Madách die finale Hoffnung, die vom Wort des Herrn folgendermaßen bekräftigt wird: „Du, Luzifer, auch du ein Ring / in meinem Universum – wirke weiter: / Dein kaltes Wissen, deine derbe Verneinung / werden die Hefe sein, die in Gärung bringt, / und irreführt aber – was gar nichts mamcht - / einen Moment den Menschen, der zurückkehrt. / Doch deine Sühne soll endlos sein / Pausenlos sehend, was du verderben willst, / Der Samen des Schönen und Edlen wird.“

Mit den nahenden Weihnachten und dem Jahresende, wenn die Tage allmählich, aber sicher länger zu werden beginnen, zu Beginn eines neuen Kreislaufs können wir auf sonst nichts vertrauen als auf das Zurückschwingen des Pendels. Darauf, dass unabhängig von Systemen der Geist stets stärker sein wird als die Materie und dass uns die Gnade des Schicksals auch vor den größten Herausforderungen bewahrt.

Original: Zoltán Nagymihály: „Korunk Tragédiája“