Kultur und Mitteleuropa – auf Kunderas Spuren

Kultur und Mitteleuropa – auf Kunderas Spuren

Grenzenlos

„Mitteleuropa ist kein Staat, sondern eine Kultur, oder, wenn man so will, ein Schicksal. Seine Grenzen sind imaginär und müssen mit jeder neuen historischen Situation neu gezogen werden. [...] Es sind also nicht die willkürlich gezogenen politischen Grenzen, die nach einer Invasion, Eroberung oder Okkupation aus der Not heraus entstanden sind, die die Einheit Mitteleuropas beschreiben und definieren, sondern die Einheit dieser Völker, die immer durch bedeutsame gemeinsame Ereignisse und Erfahrungen entstanden ist, die von Mal zu Mal unterschiedlich waren, innerhalb imaginärer und sich ständig verändernder Grenzen, innerhalb derer immer dieselben Erinnerungen, dieselben Erfahrungen, dieselben gemeinsamen Traditionen gewirkt haben.“

„Der in Tschechien geborene französische Schriftsteller Milan Kundera ist gestorben", meldete die Online-Plattform Telex. Tschechisch, französisch, mitteleuropäisch, europäisch – die Wortwahl ist keine Spitzfindigkeit, hinter den Unterschieden in der Formulierung liegen Welten. Kundera mag die französische Staatsbürgerschaft gehabt haben, er mag in Paris gelebt haben, seine Kultur – die er in seinem berühmten, oben zitierten Essay als „Ausweis der Nationen“ bezeichnete – war mit der Tschechischen Republik und Mitteleuropa verbunden. In seinem 1983 verfassten Essay „Der entführte Westen oder die Tragödie Mitteleuropas“, der zusammen mit seinen anderen Schriften 2022 vom Europa Verlag neu aufgelegt wurde, befasste er sich mit den aktuellen und historischen Problemen Mitteleuropas, einer vom Westen gewaltsam zerteilten Region. Für die Völker Mitteleuropas, so drückte er es in einer Rede vor dem tschechoslowakischen Schriftstellerkongress 1967 aus, die ebenfalls in diesem Band veröffentlicht wurde, war ihre Existenz „nicht selbstverständlich“. „Nichts war unbestreitbar, weder ihre Sprache noch ihre

ihre Zugehörigkeit zu Europa.“ Zentraler „Akteur“ des Werkes ist vor und über allem die Kultur, deren Funktion nicht nur die Existenzberechtigung der kleinen Völker bildet, sondern auch die „oberste Verkörperung der Werte“ ist, „durch die sich die Europäer gegenseitig verstanden“.

Die Vergangenheitsform ist kein Zufall. Kundera behauptete nicht nur, dass die Abkoppelung Mitteleuropas vom Westen für letzteren einen mindestens ebenso großen Verlust bedeutet wie für ersteren – ohne es vielleicht zu merken –, sondern auch, dass die zentrale Rolle der Kultur verschwindet. Wie sehr sich seine Gedanken nicht nur an die 40 Jahre zurückliegende Ära richten, mag eine andere seiner wichtigen Aussagen zeigen: „Wie einst Gott seinen Platz der Kultur überlassen hat, wird diese dasselbe tun. Aber für wen und wozu? In welchem Bereich können die höchsten Werte, die Europa potenziell vereinen könnten, zum Ausdruck kommen? Technologische Spitzenleistungen? Der Markt? Die Medien? [...] Oder vielleicht die Politik? Aber welche? Die rechte oder die linke? [...] Ist es der Grundsatz der Toleranz, der Respekt vor den Überzeugungen und Ideen der anderen? Aber wird diese Toleranz leer und nutzlos, wenn es nicht mehr eine einzige wertvolle Schöpfung oder eine einzige starke Idee gibt, die es zu verteidigen gilt? Oder müssen wir das Verschwinden der Kultur als Befreiung interpretieren und uns mit berauschender Freude dem Fest hingeben? Oder wird der Gott aus dem Verborgenen zurückkehren, um den leeren Platz einzunehmen und sich wieder sichtbar zu machen?"

Oft hat man das Gefühl, als sei die Zeit stehen geblieben. Als wären unsere Konflikte nach immer demselben Muster angelegt. Zwar haben sich die Zeiten, unser Alltag und auch die globale Szenerie verändert, aber wir können den Kampf um uns selbst nicht aufgeben. Durch unsere Erfahrung haben wir einen Vorteil. Wie Kundera 1967 (!) in Bezug auf die tschechische Nation formulierte, hatte diese „im Laufe des 20. Jahrhunderts sicherlich mehr Prüfungen zu bestehen als viele andere Nationen, und wenn es ihr gelungen ist, ihre Mentalität zu bewahren, kann sie heute sehr viel mehr über diese Epoche wissen...".

Dies gilt auch für die anderen Völker Mitteleuropas.

Was nach der Kultur kommt? Wir haben bereits die Aneignung von Märkten nach der Wende und dann nach der Erweiterung Europas erlebt – es scheint, als sähe der Großteil des Westens in diesen Prozessen eher eine historische Entschädigung für die vom Kommunismus befreiten Nationen als eine echte Wiedervereinigung. Viele von uns haben das Gefühl, dass die westliche Politik damals wie heute nicht an unseren Erfahrungen interessiert ist, sondern einem Prozess verfallen ist, den Papst Franziskus kürzlich als „ideologischen Kolonialismus“ bezeichnet hat. Dies geschieht – wie Kundera es eigentlich vorausgesagt hat – im Namen der „Toleranz“, die nicht nur leer und nutzlos geworden ist, sondern auch selektiv interpretiert wird. Die Mittel sind natürlich andere als im Kommunismus – statt Hinrichtung und Gefängnis gibt es nur Ausgrenzung, Stigmatisierung und Zum-Schweigen-Bringen der Andersdenkenden. (Erinnern wir uns hier in zwei Sätzen an den großen, in den letzten Wochen verstorbenen Jesuitenpater Henri Boulad, der wegen seiner kritischen Äußerungen über den radikalen Islam in den „Vorzeigeländern2 der Pressefreiheit wie Kanada und Frankreich seine Gedanken nicht mehr öffentlich, auch nicht in einer katholischen Kirche, äußern durfte. Er hatte mehrmals in Ungarn vorgetragen und die ungarische Staatsbürgerschaft erhalten.)

Unwillkürlich kommen mir die Gedanken von Imre Kovács, einem ungarischen Schriftsteller und Politiker, der in den Vereinigten Staaten lebte, aus dem Jahr 1951 in den Sinn. „Ideologie? Geist? Seele? Schicksalhaft europäische Dinge – und plötzlich erfasst mich ungeheures Heimweh, nicht nach Ungarn oder Budapest, Gyoma oder nach dem Komitat Fejér, sondern nach der Schweiz und Zürich, nach Frankreich und Paris, nach Europa…“ Auch er spürte bereits die Vereinheitlichungsbestrebungen in der Welt – aber der echten Einheit können wir nur mit dem dienen, „was wir von unserem Eigenen, unseren Traditionen und unserer Kultur in sie einbringen". Die wichtigste moralische Pflicht der mitteleuropäischen Nationen in den sich von Zeit zu Zeit umgeordneten, „neu gezeichneten“ Rahmenbedingungen ist auch heute das Überleben und das Bewahren.

Zoltán Nagymihály