Dilemmata der Schweizer Neutralität

Dilemmata der Schweizer Neutralität

Die Schweiz ist in Europa bekannt als föderalistische Insel von Freiheit, Unabhängigkeit, Wohlstand (Reichtum) und Neutralität. Der seit mehr als einem Jahr tobende russisch-ukrainische Krieg und seine Folgen haben jedoch das friedliche, ruhige und ausgeglichene öffentliche Leben in der Schweiz und besonders die traditionelle und seit 1815 konsequente Haltung der Neutralität durcheinandergewirbelt, ja sogar revidiert. Für das Nichtmitglied von EU und NATO hat sich herausgestellt, dass die wirtschaftlichen und politischen Entwicklungen in der Welt, die Umwälzungen neue Sichtweisen Verhaltensmuster und Aktionen erfordern. Die lasten meistens als Druck nicht nur auf der politischen Führung des Landes, sondern auch auf der heterogenen Bevölkerung (30% der Einwohner sind Ausländer).

In den letzten Jahren hatte sich das Verhältnis zur EU immer weiter verschlechtert, bis die Schweiz 2021 die Verhandlungen über die Verlängerung des bilateralen Vertrags abgebrochen hat. Sie betont, nicht bereit zu sein, das Grundrecht auf direkte

Demokratie (Volksabstimmung) und die daraus abgeleitete Gesetzgebung aufzugeben. Die EU hat versucht, dies mit verschiedenen Sanktionen auszugleichen, etwa durch die Beschränkung der Teilnahme an Forschungsprojekten, am Erasmus-Programm und am Freihandel. All diesen Diskussionen zum Trotz hat die Schweiz sich verpflichtet, laut Vereinbarung die zweite Zahlung in Höhe von etwa 1,5 Milliarden Euro in den Kohäsionstopf (zur Entwicklung der Infrastruktur der osteuropäischen EU-Neumitglieder) zu leisten.

Die seit Jahren geführten innenpolitischen Gefechte zwischen der bürgerlichen Rechten und der pseudoliberal-globalistischen Linken beschränken sich nicht nur auf das EU-Verhältnis, sondern berühren auch einen eventuellen NATO-Beitritt. Die bei Bundeswahlen zutage tretende ablehnende Haltung der Bevölkerung ist laut neueren Meinungsumfragen von einer patt-ähnlichen Situation abgelöst worden. Anfang März kündigte die Regierung in Bern, der Bundesrat, sogar an, zur Fortsetzung der Verhandlungen mit der EU bereit zu sein.

Die öffentliche Meinung ist gegenwärtig durch einen voreiligen, unüberlegten Schritt des Bundesrates geteilt: Es geht um die Mitwirkung der Schweiz an den EU-Sanktionen gegen Russland, was von der stärksten politischen Kraft, der Schweizerischen Volkspartei (SVP) und deren legendärem Hauptideologen, dem ehemaligen Bundesrat Christoph Blocher, als Verfassungsbruch und Untergrabung der Rechtsstaatlichkeit bezeichnet wird. Eine der SVP nahestehende Organisation namens „Pro Schweiz“ hat ein Referendum initiiert, das darauf abzielt, die Bestimmungen über die Neutralität und das Kriegsmaterialgesetz zu verschärfen und deren Verletzung mit schweren Strafen zu belegen.

Die Einstellung der Schweiz zum russisch-ukrainischen Krieg ist im Lauf der Zeit bedächtiger, vorsichtiger geworden. Parallel dazu hat der Vorschlag, die Schweizer Bankeinlagen und Investitionen russischer Oligarchen zu enteignen, viel Staub aufgewirbelt, bis er vom Rechtssystem als nicht verfassungs- und gesetzeskonform erklärt wurde. Und das ungeachtet der Möglichkeit, dass die Schweiz als Kriegsgewinnler verunglimpft wird.

Auf der internationalen politischen Bühne ist ein Bruch eingetreten, der im Gegensatz zum bisherigen Auftreten und Bewerten der Schweiz steht. In der Vergangenheit hat das Land bei internationalen Konflikten stets die friedliche, ausgleichende Lösung initiiert. Im Fall des russisch-ukrainischen Kriegs ist dies anfangs nicht geschehen. Deshalb ist es keine Überraschung, dass Russland den verspäteten Vermittlungsversuch der Schweiz zurückgewiesen hat. Die Regierung hat zuletzt signalisiert, dass sie im Fall weiterer Sanktionen und der indirekten Waffenlieferungen (etwa der überzähligen Leopard-2-Kampffahrzeuge und spezieller Munitionen) nach der neuen Lagebeurteilung vorgehen werde.

Die beiden Kammern des Schweizer Parlaments (der 200köpfige Nationalrat und der Staenderat mit seinen je Kanton 2, insgesamt also 52 gewählten Mitgliedern) haben Anfang März die Frage der Waffen- und Munitionslieferungen diskutiert. Beide Häuser lehnten die Lieferung von in der Schweiz produzierten Rüstungsgütern ab, auch durch dritte Länder.

Die Linke hat versucht, die Schweiz mit einem Trick in den russisch-ukrainischen Krieg zu verwickeln. Es wurde ein Antrag gestellt: Wenn die UNO-Generalversammlung einen Aggressor mit Zweidrittelmehrheit verurteile, dürfte der angegriffene Gegner mit Rüstungsgütern beliefert werden. Auch dieser Antrag wurde in beiden Häusern des Parlaments abgelehnt. Innenpolitisch kehrte wieder Ruhe ein, und die durch die bürgerlichen Parteien gebildete Mehrheit stellte – zumindest übergangsweise – den Anschein der Rechtsstaatlichkeit wieder her.

Laut der Schweizer SonntagsZeitung hat das Außenministerium auf Anweisung der Regierung einen neuen Bericht über die Neutralität erarbeitet, der aber bisher noch nicht veröffentlicht worden ist. gemacht worden. Wie durchgesickert ist, wird der Bericht

den Titel „Kooperative Neutralität“ tragen. Das Originalprinzip „bewaffnete und ständige Neutralität der Schweiz“ wird nicht aufgegeben, bleibt weiter in Kraft. Die einzige Änderung besteht darin, dass in Bezug auf die Außenpolitik Raum für die „Kooperation mit ähnlich empfindenden, gleichgesinnten Staaten" gewonnen wird. Konkret eröffnet sich die Möglichkeit, dass die Schweiz Sanktionen unterstützt, wie sie zum Beispiel gegenüber Russland gelten. Auch Militärübungen mit der NATO und der EU auf schweizerischem Territorium werden möglich. Schließlich kann der Überflug des schweizerischen Luftraums genehmigt werden für Militärflugzeuge, die nicht in einen Konflikt verwickelt sind.

Und wenn die Partnerstaaten (welche?) in der Schweiz hergestellte Waffen und Munition

an Kriegsparteien liefern wollen, wie im vorliegenden Fall Deutschland und Dänemark, so wäre dies nicht verboten. Der Gesetzesentwurf würde mehrere bestehende Gesetze lockern, um der internationalen Rechtspraxis der Neutralität zu entsprechen. Ein derartiger Fall wäre etwa die Behandlung ukrainischer Verwundeter in Schweizer Spitälern, was laut dem noch geltenden Neutralitätsgesetz wegen der ungleichen Behandlung russischer Verwundeter nicht möglich ist.

Wie aus den hier willkürlich angeführten Argumentationen ersichtlich ist, gähnt bei der Schweizer Neutralität eine riesige Lücke zwischen Theorie und Praxis. Im Sinn der geltenden Verfassung und Gesetzgebung war der Schritt der Regierung umstritten. In einem Rechtsstaat, der die Schweiz ja ist, müsste er Konsequenzen wie den Rücktritt haben (solche Forderungen sind auch gestellt worden). Es gibt Stimmen, laut denen „die Neutralität unerträglich geworden ist“ – da wird fast vergessen, was alles die heutige Schweiz der jahrhundertealten Neutralitätspolitik verdankt.

Die Frage ist: Was ist Neutralität? Ob Sicherheitsgarantie oder eine überholte Konzeption, hängt davon ab, ob aus der zerrütteten Weltordnung die neue Welt durch den weiteren Raumgewinn der Globalisierung oder durch das nüchterne Verhalten der klassischen Nationalstaaten und deren neue Interessenbündnisse entsteht.

Die Schweizer Parlamentswahlen am 22. Oktober 2023 und das Referendum über die Verschärfung des Neutralitäts-Verfassungsartikels könnten sich in mehrfacher Hinsicht als schicksalhaft erweisen.

Péter B. Szabó