Die ganze Welt grenzt an Krieg

Die ganze Welt grenzt an Krieg
Foto: Vadim Ghirda

Wladimir Putins Aggression in der Ukraine wird nicht nur die gesamte Weltordnung, sondern auch die Struktur der westlichen Welt verändern. Umgekehrte Konditionalität? Eher ein Spiegelbild der Realität.

Dieser Tage geht eine aufregende Zeit vielseitiger taktischer Manöver zu Ende, in der die Erweiterung der Organisation des Nordatlantikpakts (kurz: NATO) nach Nordeuropa durch Ungarn (und die Türkei) in Frage gestellt war. Nach einer im Vergleich zu anderen NATO-Mitgliedern langen Verzögerung hat das Budapester Parlament am 27. März dem Beitritt Finnlands zugestimmt, und noch immer steht die Ratifizierung des Beitritts Schwedens aus. Beide bisher neutralen nordischen Länder hatten die NATO-Mitgliedschaft unter dem Eindruck der russischen Aggression beantragt. Dies ist wichtig zu betonen, denn Putin ist bestrebt, den Eindruck zu erwecken, er sei das Opfer.

China – die einzige Macht, die in der Lage ist, den russischen Diktator zu beeinflussen – hat gerade mit dem Besuch von Präsident Xi Jinping in Moskau Unterstützung für den Aggressor bekundet, ist aber nicht bereit, so weit zu kooperieren, wie Putin es gerne hätte. Dieser drehte den Spieß sofort um und verwandelte seinen unerfüllten Wunsch in eine Anschuldigung gegen die Vereinigten Staaten. „Russland und China bilden kein Militärbündnis und bedrohen niemanden, aber der Westen schafft neue globale Achsen“, sagte Putin dem Fernsehsender Rossija 1. Dann wagte er sich etwas näher an seine eigene Wahrheit heran: „Wir haben eine militärische Zusammenarbeit (mit China), die wir nicht verbergen. (...) Wir haben auch eine militärische Zusammenarbeit, wir haben Übungen. (...) Wir setzen das alles fort, alles ist transparent, aber es ist kein Militärbündnis", formulierte Putin. Natürlich erklärte er, was er mit den „neuen Achsen“ des Westens meinte. Sie seien ähnlich aufgebaut, wie dies „die faschistischen Regime in Deutschland und Italien und das militaristische Japan" in den 1930er Jahren getan hätten. In das Bestreben, eine „globale NATO“ zu schaffen, sollen Neuseeland, Australien und Südkorea einbezogen werden, behauptete Putin.

Die am häufigsten geäußerte Motivation des russischen Diktators wird übrigens nicht einmal in Ungarn allgemein akzeptiert. Péter Marton, außerordentlicher Professor an der Corvinus-Universität in Budapest, dreht im Mandiner-Podcast das Gefährdungsszenario Putins um: „Was wäre geschehen, wenn die NATO für den Fall, dass Russland Belarus enger in sein Bündnissystem integriert, Signale gegeben hätte, das nicht zu akzeptieren, denn was solle das, dass sich das russische Bündnissystem den Grenzen der NATO nähert? Dann kann ich einen Krieg gegen Belarus beginnen, West-Belarus aus Belarus herausschneiden?“ Nach Ansicht des Außenpolitik-Experten „steht das russische Narrativ, wonach der Westen nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion versprochen habe, die NATO werde sich nicht auf Kosten der russischen Einflusssphäre nach Osten ausdehnen, und dieses Versprechen dann gebrochen habe, auf einer sehr schwachen faktischen Basis". Péter Marton sieht den Konflikt darin, dass „Russland verkündet, nicht zu akzeptieren, dass andere Länder tun, was sie wollen... Das ist nicht vom Westen verursacht, das existiert unabhängig von ihm“. Nach Ansicht des Dozenten „stellt die NATO für Russland ein Hindernis dar, in seinem als ,Nah-Ausland‘ betrachteten Einflussbereich zu tun und zu lassen, was es will.“

Schauen wir uns genauer an, was der Nachbarschaftskrieg für Europa bedeutet, das bisher unter dem Verteidigungsschirm der USA gelebt hat. Österreich (passiv) und Ungarn (mit Friedensforderungen) sind wichtige Nebendarsteller in einem Drama, in dem nichts mehr so sein wird, wie es mehr als dreißig Jahre lang nach der Auflösung der Sowjetunion war: eine unipolare Welt dank der Vereinigten Staaten. Natürlich war die Welt in den letzten Jahren ohnehin nicht "uni", denn China (und im wirtschaftlich-technologischen Bereich Indien) haben die nordamerikanische Hegemonie nach und nach ausgehebelt und unterminiert.

Aber der Krieg stellt alles auf den Kopf. Alle 30 NATO-Mitgliedsstaaten beginnen aufzurüsten – so sehr, dass die deutsche Regierung das auch in Ungarn tätige Unternehmen Rheinmetall mit einer umfangreichen Waffenproduktion beauftragt hat. Finnland und Schweden, bisher neutral, sowie die weiterhin neutrale Schweiz hatten schon immer höhere Verteidigungsausgaben.

Es lohnt sich nicht, die ungarischen Taktiken der letzten Monate im Detail zu betrachten, denn die Aktionen zeugen nicht gerade von strategischem Bewusstsein. So meinte Parlamentspräsident László Kövér Anfang März im Fernsehsender Hír TV noch, die NATO-Erweiterung würde „die Eskalation des Krieges in der Ukraine verstärken". Außerdem sprach er fälschlicherweise davon, dass „die NATO bisher praktisch keine Grenze zu Russland hatte, aber jetzt, mit dem Beitritt Finnlands, eine direkte Landgrenze von 1.340 Kilometern entsteht." Nur zur Präzisierung: Fünf bisherige NATO-Mitglieder haben insgesamt die gleiche Grenzlänge mit Russland.

László Kövér hat sich innerhalb von drei Wochen „umgedreht“, was Finnland und Schweden betrifft. Bei einem Besuch in Island nannte er die Aufnahme der beiden Länder eine „moralische Verpflichtung“. Er kündigte die Ratifizierung des finnischen Beitritts für 27. März an (inzwischen geschehen), und auch jene Schwedens werde demnächst erledigt sein, „aber Ungarn wird nicht das letzte Land in der Reihe sein“, versprach der Parlamentspräsident. am 27. März ratifiziert, und der Schwedens wird in naher Zukunft ratifiziert werden, aber Ungarn wird nicht das letzte Land in der Reihe sein", versprach der Präsident, obwohl zu diesem Zeitpunkt noch nicht sicher war, wie die Abgeordneten abstimmen würden. Im März hatte nämlich eine Fidesz-Delegation eine Informationsreise durch die nordischen Länder absolviert, um zu prüfen, ob diese die NATO-Aufnahme verdienten...

Zwei weitere Entwicklungen hängen ebenfalls mit dem Nordatlantikpakt zusammen. NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg berief im April trotz des ungarischen Widerstands eine Sitzung des NATO-Ukraine-Ausschusses auf Ministerebene ein. Viele interpretierten diesen Schritt als ein Zeichen dafür, dass Stoltenberg die Politik der Orbán-Regierung satthabe, die Unterstützung für die NATO-Integration der Ukraine von Fragen des Minderheitenschutzes abhängig zu machen. Das ukrainische Sprachgesetz – dessentwegen Ungarn die Sitzungen boykottiert – hat wirklich nichts mit den Sicherheitsinteressen eines Staates zu tun, der sich im Krieg befindet. Stoltenberg versprach, dass auf dem NATO-Gipfel im Juli in Litauen, zu dem auch der ukrainische Präsident Wolodymyr Zelenskij eingeladen ist, „Ungarns Sorgen um die Minderheiten diskutiert werden".

Auch bei einem anderen Thema kann sich Stoltenberg in den kommenden Monaten nicht über zu wenig Arbeit beklagen. Der norwegische Politiker, der voraussichtlich im Herbst das Amt des Generalsekretärs abgeben wird, will bis Juli eine Einigung über die Verteidigungsausgaben erzielen. Die seit 2014 gültige Zielsetzung lautet, an zwei Prozent des Bruttosozialproduktes (GDP) heranzukommen. Stoltenbergs ehrgeiziges Ziel ist es, diese Absicht in eine Verpflichtung umzuwandeln. Gelingt ihm das, so kann der 64jährige zweimalige norwegische Ministerpräsident in den wohlverdienten Ruhestand treten.

Ob er sich dann wohl bei Wladimir Putin für diesen Erfolg bedankt?

Peter Martos