Außenpolitische Sackgasse droht

Außenpolitische Sackgasse droht

Sie geistert herum, nein, wir haben sie schon am Hals, die von István Bibó so genannte ungarische Sackgassen-Geschichte. Ich fürchte, dass unsere dem Unglück

Entronnene Nation durch Fehleinschätzungen und -entscheidungen wieder in die falsche geführt wird, weil sich Ungarns Regierung gegen die außenpolitischen Prinzipien und Ziele des Systemwechsels von 1989-90er gewandt hat.

Ausgangspunkt war es, mit dem uns aufgezwungenen antidemokratischen, östlichen politischen, militärischen und wirtschaftlichen System zu brechen, nach Europa „zurückzukehren“, sich in die in jeder Hinsicht attraktiven euro-atlantische Integration einzuklinken. 2004 war dies auch realisiert: Mit guter Politik haben wir erreicht, Mitglied der militärisch und wirtschaftlich mächtigsten Institutionen der Welt, der NATO und der Europäischen Union, zu sein. Einige unserer Nachbarn und Schickalsgenossen folgten zwar mit Rückstand, aber auf ähnlichen Wegen.

Jetzt wendet sich unsere Außenpolitik von unseren westlichen Verbündeten ab, ficht mit der Europäischen Union und verkündet, dass im Osten eine neue Sonne aufgeht, welche die Sonne des untergehenden Westens verdunkelt. Das in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts errungene und erstarkende ungarische Prestige und Ansehen ist verloren, in Europa und in Nordamerika hat sich die Ansicht verbreitet, Ungarn sei ein unzuverlässiger Verbündeter, ein trojanisches Pferd der autoritären östlichen Regime, ein Diener des russischen Präsidenten Putin. Die Vierergruppe von Visegrád und die besondere ungarisch- polnische Freundschaft in Trümmern. Die weitgehend begründeten „Brüsseler“ Vorwürfe

haben schwerwiegende wirtschaftliche und finanzielle Folgen.

Seit 1100 Jahren ist der Westen unsere Welt, wir sind ihr Teil, wir sind von ihr nach dem Zweiten Weltkrieg nur durch eine äußere Kraft, den sowjetischen Imperialismus, getrennt worden. Ich mache mir auch Sorgen um die existierenden, ja sogar wachsenden Mängel, die schlechten geistigen und moralischen Moden, um die Irrwege wie die „politische Korrektheit“. Aber der Westen war bisher stets zur Selbstkorrektur fähig, hat zahllose Widersprüche des Kapitalismus, die berechtigte soziale Unzufriedenheit, die zu Kriegen führenden Machtkämpfe überwunden und ringt mit den neuen Bedrohungen wie der globalen Erwärmung, der unkontrollierten Migration, dem Fundamentalismus und dem Terrorismus.

Diesem Westen stehen die diktatorischen östlichen Länder, allen voran Russland

und China, gegenüber, in denen es keine Freiheit gibt, Kritik an der Regierung nicht geduldet wird und die Inhaber der Macht einzementiert sind. Im Falle Chinas können wir den technologischen Fortschritt, seine Ergebnisse in der Weltraumforschung anerkennen, aber seine Bewaffnung verursacht unter seinen Nachbarn, im gesamten Fernen Osten große Angst. In den ungarischen Medien ist selten von der Unterdrückung der Uiguren zu hören und zu lesen, von denen eine Million in „Umerziehungslager“ gesperrt sind. Auch die chinesische Kolonisierung von Xinjiang und Tibet oder den Kampf der Bevölkerung von Hongkong um die Sicherung der Überreste ihrer Freiheit sind in Ungarn kein Thema.

Orwells Schreckensvision vom allwissenden, selbst die Gedanken kontrollierenden politischen System ist in China im Entstehen begriffen. Der Sieg dieser Systeme ist in der freien Welt sehr unerwünscht, aber auch nicht wahrscheinlich. Die östliche Orientierung in eine Sackgasse voller Gefahren.

Eine Priorität des Systemwechsels 1989/90 war die Herstellung guter, möglichst freundschaftlicher Beziehungen zu den Nachbarn, aber nicht über die Köpfe der ungarischen Minderheit hinweg, indem man ihre Sache vergisst. Wir wollen, dass die dort lebenden ungarischen Minderheiten die in internationalen Konventionen und Verträgen festgelegten Rechte genießen, damit sie eine sichere Zukunft in ihrer Heimat haben. Dies ist in erster Linie Sache der dortigen Regierungen, der Mehrheit, die dem Land den Namen gegeben hat, aber Ungarn kann mit seiner Politik den aus unseren Grenzen gedrängten Ungarn helfen.

Heute, wie auch schon als Minister vor dreißig Jahren, lasse ich mich von folgendem Grundsatz leiten: eine zu den Nachbarstaaten ausgestreckte Hand und ein die ungarischen Minderheiten umarmender Arm. Die Sommeruniversität in Bálványos, dann in Tusnádfürdő – an der ich selbst mehrmals teilgenommen habe – ist im Zeichen dieses Grundsatzes entstanden: Einverständnis, Vertrauensbildung zwischen den Ungarn (im Mutterland wie in Siebenbürgen) und den Rumänen. Rumänische Politiker nahmen dort als Gäste teil, einmal sogar Staatspräsident Basescu.

Wie weit sind wir davon heute entfernt? Als Ministerpräsident Viktor Orbán Gast von Regierungschef Marcel Ciolacu bei einem Mittagessen war, wäre dies eine gute Gelegenheit gewesen, Vertrauen aufzubauen, gemeinsame Interessen zu abzustecken oder sogar strittige Themen zu besprechen. Dies umso mehr, als Rumänien eine immer wichtigere Rolle in jenem Bündnissystem spielt, dessen Teil auch wir sind. Außerdem befindet sich die ungarische Partei, RMDSZ, in einer schwierigen Situation, im Bukarester Parlament die Vertretung der Siebenbürger ungarischen Minderheit sicherzustellen. Die diesjährige Veranstaltung in Tusnádfürdő hätte diesem Zweck gut dienen können.

Die Tschechische Republik ist ein wirtschaftlich starkes Mitglied der V4-Gruppe, mit einem Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt nach Kaufkraftparität von 44.261 US-Dollar, dem höchsten. Es gibt keine signifikanten Gegensätze zu Ungarn. Es ist bedauerlich, dass sich unsere Beziehungen verschlechtert haben. Auch die Slowaken hätte man vor deren Wahlen im September nicht mit leicht misszuverstehenden Äußerungen reizen dürfen. Wäre es wirklich gut, wenn jener Robert Fico in der Slowakei eine Regierung bilden könnte? (Inzwischen hat er sie gebildet, Anm. d. Red.) Fico war um 2010 herum in Ungarnfeindlichkeit unübertroffen, hat im Preßburger Parlament ein Sondergesetz gegen die Doppelstaatsbürgerschaft des ungarischen Einbürgerungsgesetzes beschließen lassen und von den Ungarn „Bereuen ihrer Sünden, Bedauern, Entschuldigung und Wiedergutmachung“ gefordert.

Für unseren größten Nachbarn, die Ukraine steht im Kampf gegen Russland nicht nur die territoriale Integrität, sondern die Existenz auf dem Spiel. Wir haben berechtigte Einwände gegen den ukrainischen Nationalismus, dessen Äußerungsformen die ungarische Minderheit

Stören. Der Plan, das ungarische Schulsystem zu zerstören, steht dem ungarisch-ukrainischen Staatsvertrag von 1991 diametral entgegen. Aber wann gibt es eine bessere Chance, unsere Beschwerden anzubringen: Wenn wir der Ukraine in ihrer Not beistehen, oder wenn wir sagen, dies sei nicht unser Krieg ist, die Ukraine habe um des Friedens willen

Moskaus Diktat zu akzeptieren? Kein einziger Verbündeter stimmt uns in diesem Punkt zu. Es ist eindeutig Ungarns Interesse, dass dieser Krieg nicht den Erfolg des Aggressors beschert.

Ich habe immer öfter den Eindruck, dass es das Ziel der heutigen ungarischen Außenpolitik ist, in der Sackgasse zu bleiben, sich mit allen demokratischen Nachbarn und euro-atlantischen Verbündeten endgültig zu zerstreiten. Unsere Isolation wird nicht nur nicht ausgeglichen, sondern sogar verstärkt durch das außerordentlich herzliche Verhältnis zu Russland und China. Können wir Ungarn wollen, dass die EU auseinanderfällt und der Osten über den Westen triumphiert?

Géza Jeszenszky

Original: „Jeszenszky Géza: Külpolitikai zsákutca fenyeget“